«Auch heikle Situationen in Rollenspielen»

Kann man sich mit künstlerischen Mitteln der eigenen Geschichte nähern, auch wenn sie schmerzhaft ist? Im Interview zeigen Katja Zellweger und Dennis Schwabenland mit biografie.art einen möglichen Zugang.
Interview: Isabelle Jakob für m2act/ENSEMBLE Magazin

Könnt Ihr Euch an ein Theatererlebnis erinnern, bei dem es um eine persönliche Geschichte ging und bei dem Ihr das Gefühl hattet, dass das ethisch heikel ist?

Katja Zellweger: Das war ein Stück von und mit einer aus der Schweiz ausgewiesenen Person, wobei ich stark den Eindruck hatte, dass sie sich in ihrer neuen Situation noch nicht zurechtgefunden hat. Sie wirkte emotional eher unstabil, zu nah an den Geschehnissen, als dass sie für einen öffentlichen Rahmen gepasst hätten. Als Zuschauende fühlte sich das teils voyeuristisch an und ich hatte das Gefühl, mit drin zu hängen.  

Dennis Schwabenland: Ich habe mich vor Kurzem mit einer Organisation getroffen, die versucht, armutsbetroffenen Personen eine Perspektive zu geben. Das Team hat mir erzählt, dass sie sehr schlechte Erfahrungen mit Theater gemacht haben. Bei einem Projekt haben armutsbetroffene Personen ihre Geschichten geteilt, waren dann aber mit der Veröffentlichung nicht einverstanden. Die Theatergruppe hat es aber trotzdem gemacht. Sowas zerstört total das Vertrauen und die Bereitschaft dieser Personen, sich in einem künstlerischen Projekt zu öffnen.


Info

biografie.art wurde von Dennis Schwabenland und Katja Zellweger ins Leben gerufen und erhält Förderung durch Migros-Kulturprozent m2act. Das Projekt stellt Fragen, inspiriert und gibt Einblick – aufbauend auf Gesprächen mit Künstler*innen, Beteiligten und Expert*innen, die sich mit biografischen Geschichten künstlerisch auseinandersetzen. Die Website bietet Erfahrungsberichte, befragt Vorgehensweisen und regt zum ethischen Handeln an. Am 1. Mai geht die Webseite von biografie.art online. Ein Toolboxeintrag auf der Webseite von m2act folgt.  

m2act ist das Förder- und Netzwerkprojekt des Migros-Kulturprozent für die Darstellenden Künste der Schweiz und fördert diverse Projekte, Netzwerke und Initiativen in der Darstellenden Kunst.


Euer Projekt biografie.art möchte genau solche Fälle verhindern bzw. dafür sorgen, dass mit persönlichen Geschichten auf der Bühne sorgfältig und ethisch umgegangen wird. Wie kam es zu dieser Idee? 

DeS: Vor circa drei Jahren habe ich ein Stück über den sozialen Absturz meiner Eltern geplant, welches ich dieses Jahr veröffentlichen werde. Ich hatte keinerlei Richtlinien, wie ich mich an dieses emotionale Thema herantasten könnte. Dann kam die Ausschreibung von Migros-Kulturprozent m2act, wo es darum ging, die Praxis im Theaterschaffen zu verbessern.

Ich fand es interessant, diese fehlenden Richtlinien selber herauszuarbeiten und habe zu diesem Zweck Katja kontaktiert. Ich fand ihre journalistische Perspektive spannend und auch die Tatsache, dass sie selbst ein Stück über einen Suizid in ihrer Familie geschrieben hat. Zudem habe ich schon oft bei Projekten mitgewirkt, bei denen das Arbeiten mit biografischem Material ethisch nicht unbedingt korrekt war. Ich wollte diesbezüglich einfach besser werden. 

Katja Zellweger, Co-Leitung biografie.art, Kulturjournalistin und Germanistin aus Bern.

KaZ: Ich fand diese Idee sehr spannend, auch weil ich aus Erfahrung wusste, wie einsam die Arbeit an einem persönlich gefärbten Projekt sein kann. Ich hätte mir damals oft den Austausch gewünscht. Zudem ist bei solch persönlichen Projekten oftmals das Umfeld involviert und ich fragte mich immer wieder, wie man das macht. 

Für wen ist biografie.art gedacht und was bietet Ihr konkret an? 

KaZ: Unser Projekt richtet sich an Praktizierende der Darstellenden Künste und darüber hinaus. Wir haben fünf Projektphasen definiert, an denen man sich orientieren kann. Aber wir geben keine fixen Instruktionen, die nach Schema X abgearbeitet werden können. Bei biografie.art geht es darum, dass man sich zu seinem Projekt Fragen stellen und das künstlerische Vorgehen spiegeln und im Team reflektieren kann.

Man kann uns auch kontaktieren für einen Austausch, einen Workshop oder eine Beratung. Die zehn Erfahrungsberichte auf unserer Webseite sind auch sehr aufschlussreich. Zudem gibt es diverse Aussenansichten z. B. aus der Sozialanthropologie, der Traumatherapie und dem Investigativjournalismus.  

DeS: Was wir zusätzlich anbieten, ist ein Arbeitsdokument, wo wir die wichtigsten Reflexionsfragen zusammengestellt haben. Die Idealvorstellung wäre, dass die Projektleitung mit allen Beteiligten diese Fragen diskutiert und so eine gemeinsame Grundlage oder sogar Vereinbarung schafft, auf die man sich im Prozess bis hin zur Veröffentlichung berufen kann.  

Kann biografie.art auch als Meldestelle genutzt werden? 

DS: Nein, das übersteigt unsere Kompetenzen. Zudem kann es bei heiklen Fällen schnell juristisch relevant werden, dafür sind wir nicht ausgebildet. Da wendet man sich besser an entsprechende Expert*innen, an die Theater und Verbände.  

Angenommen, eine Theatergruppe entscheidet sich für einen Workshop mit Euch. Wie könnte das konkret aussehen? 

KaZ: Wir haben am letztjährigen Netzwerktreffen Forum Tanz x m2act bereits zwei Workshops durchgeführt: Alle Teilnehmenden kamen ungefragt mit konkreten Fragestellungen aus dem Arbeitsalltag. Das hat sich als Türöffner erwiesen,  denn so konnten innerhalb der Gruppensolidarität auch heikle Themen besprochen werden. Was auch denkbar ist, wären Rollenspiele. Dadurch könnte eine grössere Empathie und mehr Verständnis für andere Positionen in einem Projekt geschaffen werden. 

Dennis Schwabenland, Co-Leitung biografie.art, Regisseur und Schauspieler aus Bern.

Dennis Schwabenland, Co-Leitung biografie.art, Regisseur und Schauspieler aus Bern.

DeS: In den Rollenspielen geht es teilweise um heikle Situationen, die uns geschildert wurden, die wir verfremdet haben und über die man sich fragen kann, wie man selbst reagieren oder handeln würde. Nebst den Workshops sind für uns übrigens auch Coachings denkbar, wo wir im Probeprozess regelmässig dazukommen und helfen, das Geschehene ethisch zu prüfen. 

Gibt es auch auf Seite des Publikums Massnahmen, die Ihr notwendig findet, damit auch dort ethische Standards gewährleistet sind?  

DeS: Die ersten Personen, die im Publikum sitzen sind meistens direkt Betroffene. Da ist es gut, wenn man bereits im Vorfeld Beziehungsarbeit leistet und sie informiert, was im Stück vorkommt oder sie zu einer Vorpremiere einlädt. Wenn es nicht direkt Betroffene sind, sind auch die Theater gefragt mit Nachgesprächen, Infos auf der Webseite etc. Ich sehe da auch eine gewisse Pflicht auf Seite der Veranstaltenden, dass sie sich für die Gruppen auch verantwortlich fühlen und ihnen je nachdem mit verschiedenen Massnahmen zur Seite stehen. 

Das klingt alles sehr zeitaufwändig. Was bedeutet der Faktor Zeit, wenn man mit persönlichen Geschichten Theater macht? 

KaZ: Zeit ist extrem wichtig, denn solche Projekte unterscheiden sich stark von Theaterprojekten, die keine persönliche Geschichte als Grundlage haben. Es gibt mehr Verantwortlichkeiten in einem solchen Prozess und es gibt mehr Stressfaktoren. Und deshalb muss bei allem mehr Zeit einberechnet werden. 

DeS: Der Faktor Zeit kann auch ganz praktisch eine Rolle spielen, wenn Menschen dabei sind, die nicht alle dieselbe Sprache sprechen oder aus einem anderen Kulturkreis kommen. Da braucht es viel Zeit für Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit. Zum Beispiel, um zu erklären, was dokumentarisches Theater eigentlich ist. Und was es heisst, wenn Publikum und Presse kommen, die das Gesehene alle anders sehen und einordnen. Diese Vermittlungsarbeit kann sehr viel Zeit beanspruchen, ist aber essenziell, um das Projekt ethisch durchzuführen. 

KaZ: All das ist Beziehungsarbeit. Und Beziehungsarbeit ist zeitintensiv. Das muss man einberechnen und auch budgetieren. Eine amerikanische Studie zum Thema Dokumentarfilm hat ergeben, dass Personen dann wieder bei einem solchen Film mitmachen würden, wenn sie sich richtig wiedergegeben fühlen. Das ist also das Wichtigste und lässt sich auch auf das Theater übertragen. Aber damit das richtige Wiedergeben gewährleistet ist, muss man die Person wirklich kennenlernen. Das braucht Zeit. 

Zusammenfassend: warum ist ethisches Handeln in den Darstellenden Künsten für alle Beteiligten – sei es Darstellende, Zuschauende und Projektleitende – so wichtig? 

DeS: Es geht um echte Leben, die auf der Bühne geteilt und gezeigt werden. Dieses Heraustragen einer persönlichen Geschichte in einen öffentlichen Raum ist kein Spiel und kann Konsequenzen haben. Hinzu kommt, dass man nicht auf der Bühne Missstände anprangern kann und im Projekt selbst unethisch arbeitet. Das ist unglaubwürdig und nicht konsequent.

 

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