Mit der eigenen Geschichte auf die Bühne
Dürfen Darsteller*innen die eigene Geschichte transportieren? Früher war das verpönt, doch heute gelten die eigenen Erfahrungen als Ressource. Unsere Kolumnistin Rebekka erlebt einen intensiven Abend in Italien.
Von Rebekka Burckhardt
Kürzlich war ich in Mailand im Theater. Das Stück hiess Autoritratto (Selbstportrait), geschrieben und gespielt von Davide Enia – einem Künstler mit vielen Talenten. Enia ist kein Unbekannter, kein Frischling, kein Geheimtipp. Ich selbst kannte ihn aber bisher nicht.
Der Abend hat mich sehr berührt – und er hat mich zu gleich blendend unterhalten. Wie kann jemand diese großartige Mischung erschaffen?
Die berührt und zugleich aufs Beste unterhält? Und das auch noch alleine auf der Bühne, zwei Stunden eine Geschichte erzählend, nur begleitet von einer Gitarre?
Ich habe selbst im Laufe der Jahre ein paar Theater-Monologe gespielt, darunter einen selbstgeschriebenen Soloabend über die Geschichte meiner Familie. Ich kann Soloperformance nur empfehlen. Es ist herausfordernd und erfüllend zugleich einen Abend alleine zu bewältigen – und trotzdem zensiere ich mich noch immer sehr oft in meinem Kopf. Was hält mich zurück, frage ich mich nach dem Abend mit Enia.
Muss man sich fremd werden, um gut zu sein?
Zu meiner Studienzeit war noch die „heilige Transformation“ state of art: Wir Schauspieler:innen sind das Gefäss für den Text unserer Figur; und unsere eigene Biographie ist unwichtig. „In eine Rolle schlüpfen“, hieß das. Ich fand diesen Ausdruck immer irritierend. Je markanter sich jemand in eine Rolle verwandelt, desto lobenswerter. Oder es hieß dann eben kritisch: Er oder sie spielt eigentlich immer sich selbst. Als würde das automatisch die Qualität der Darstellung mindern.
Die eigene Biographie: Herkunft, Kindheit, Sozialisierung, Vorfahren zu thematisieren war beinahe tabu. Das hat sich geändert, nicht wahr?
Viele Bühnenmenschen beschäftigen sich in Projekten/Solo-Abenden mit ihrer Familiengeschichte und ihrer Herkunft. So eben auch Davide Enia. Er erzählt seine Geschichte: Die Geschichte seiner Kindheit und Jugend in Palermo.
Davide steht, ganz alleine, in seiner Strassenkleidung, mit der er vorher an uns vorbeiging, auf der großen leeren Bühne des Piccolo Teatro in Mailand. Rechts am Bühnenrand, ein Gitarrist, der mit seinen Klängen die Sprache und den Gesang von Davide begleitet, manchmal mit ihm gemeinsam Sizilianische Lieder singt und machmal nur die Erinnerungen an das Schweigen, den Schmerz, die Angst, die Trauer und die Wut mit seiner Musik auffängt. Ein großer Abend.
Mit so einer dramatischen Biographie wie Davide Enia – der Geschichte seiner Jugend im Palermo der 80iger und 90iger Jahre, der entsetzlichen Zeit der Mafia-Morde an Politikern, Richtern, Priestern und dem Schweigen der Bevölkerung – kann natürlich nicht jeder Bühnenmensch aufwarten und mithalten, das ist klar.
Jede Biographie ist eine Geschichte wert
Aber jede Biographie, jede Geschichte einer Familie ist erforschens- und erzählenswert. Zwar eröffnet Tolstoi seinen Roman: Anna Karenina mit den berühmten Worten: „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich.“ Happige Familiengeschichten sind natürlich guter Stoff für einen Theaterabend. Wir Bühnenmenschen bringen oft genug ein gut gefülltes Drama Füllhorn aus unserer Kindheit und Jugend mit in den Beruf.
Aber eine tragische Familiengeschichte ist nicht die Bedingung, die Voraussetzung für einen Monolog, für ein Solo.
Davide Enia erzählt uns über 2 Stunden seine Geschichte. Er ist dabei sehr nahbar, sehr bei sich. Es gibt den leeren Bühnenraum, den Klang der Gitarre und seine Geschichte, die er mit seiner Stimme, seiner Gestik und Mimik vor uns ausbreitet – manchmal wirft sein Körper einen Schatten auf die Wand hinter ihm. Eine Mischung aus Performance, dramatischem Stand-up und Klagegesang. Er lässt uns hinein in seine Geschichte. Das sind die Voraussetzungen, die Zutaten für einen erfüllenden, bewegenden und unterhaltsamen Theaterabend.
In deiner Kindheit gab es zum Glück keine großen Dramen und Katastrophen, Du hast das Privileg, in einem sicheren Land aufgewachsen zu sein – aber es gab vielleicht das Bienenhaus deines Großvaters? Ja, dann erzähl uns diese Geschichte – und erzähl sie so, dass wir uns wünschen, der Abend endete nie.
Die Geschichten unserer Familie – unserer Vorfahren und unserer eigenen – sind mindestens so interessant wie der Plot eines guten Theaterstückes – oder? Und die Dialoge dazu haben unser Leben selbst geschrieben – wir müssen sie nur niederschreiben.
Die Deutungshoheit liegt diesmal nicht im Auge des Betrachters – sondern in meiner Hand.
Das ist, nach meiner kleinen Erfahrung, das Rezept:
Loslegen mit Aufschreiben, ohne Zensur und Gedanken ans Resultat und sich dann in die Partitur der eigenen Geschichte werfen:
Mit Mut zum Gefühl und Freude am Erzählen – ob es nun schmerzhaft ist oder leicht wie eine Feder.
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