London Teil 3: Verletzlichkeit und Schutz
Man kann sich ganz ins Schauspiel geben, wenn man sich sicher fühlt. Balance zwischen sich öffnen und geborgen fühlen finden wir in Corinnes drittem Monat in London.
Von Corinne Soland
Die ersten drei Monate sind vorbei – husch, husch, verschwinden sie in der Vergangenheit und speichern sich als Erinnerung ab. Mein Körper ist wacher, er hat gelernt, präsent zu sein. Er hat gelernt, zuzuhören. Listening. Er hat gelernt, weich zu werden, loszulassen. Softening. Er hat gelernt, betrachtet zu werden und das auszuhalten. Commitment to character.
Okay, am letzten arbeite ich noch. Weniger Performen und mehr Sein. Zum Beispiel in dem Gespräch sein, in dem sich die Figur befindet – in dem Moment, der immer wieder zum ersten Mal passiert! Und in der Spannung sein, die entsteht, wenn die:r Spieler:in mehr über Zukünftiges Bescheid weiss als die Figur. Auszuhalten, dass es kein „Richtig“ und kein „Falsch“ gibt. (What!?!)
Meine drei Wochen Grippe oder Virusinfektion – oder was auch immer das war – sind vorbei. Noch immer habe ich keinen Geruchssinn, aber das bedrückende Gefühl von Enge in der Brust und Atemlosigkeit ist vorbei. Wieder in die Schule, zu den „Peers“ und den Lehrer:innen zurückzukehren, war eine Freude. Und wie wunderbar sie mich empfangen haben – nach drei Monaten sind wir bereits eine eingeschworene kleine Gemeinschaft. Mit einer eigener Art miteinander umzugehen, eingespielten Mustern und immer wieder mit viel Unterstützung und Füreinander-Da-Sein.
Das ist ja auch einer dieser Süchtigmacher am Theater: die zwischenmenschliche Nähe, die entsteht. Habt ihr schon mal versucht, diese Bindung zu erklären? Irgendwann zwischen „Ja, wir schauen uns sehr lange und tief in die Augen und geben vor, ineinander verliebt zu sein“ und „Manchmal hängen wir uns alle zu sechst heulend in den Armen“ fehlen die richtigen Worte. Für das, was da eben entsteht und entstehen darf. In diesem Raum, der irgendwie geschützt ist und für den eigene Regeln gelten – die, die wir selber miteinander aushandeln.
Die Nähe macht diesen Raum natürlich auch zu etwas, das gekapert werden kann. Von Absichten, die nicht vorteilhaft für Wachstum sind, sondern Menschen in Bedrängnis bringen können. Deshalb braucht es gute Führungskräfte, die um die Wichtigkeit dieses Raumes wissen, ihn beschützen und die Menschen darin. Es braucht das Herstellen von Vertrauen, dass wir uns mit allem an „die oben“ wenden können und dürfen. Und wenn wir das tun, dass wir gehört werden.
Es ist natürlich auch eine spannende Gratwanderung in einer Position „da oben“: Menschen herausfordern wollen, an ihre Grenzen bringen wollen, um sie zu fördern. Und gleichzeitig verpflichtet zu sein, sie zu schützen. Oder zumindest die Verantwortung wahrzunehmen, dass ein Schutz vorhanden sein sollte.
Wenn ich mit Freund:innen und Spielenden aus der Branche spreche, habe ich den Eindruck, dass sich vieles verändert hat, was diese Gratwanderung angeht. Schulen, die einen härteren Ton und Übergriffe tolerierten, mussten schliessen oder ihre Struktur grundlegend umdenken. Netzwerke wie «Réseaux féministe circassiennes Suisse», das sein Vorbild in Frankreich findet, haben an Popularität und politischer Mitsprache gewonnen, gerade auch, was die Ausbildung von – in diesem Fall Zirkus- – Artist:innen angeht.
Stimmen von Menschen, die sich fordern wollen, körperlich, seelisch und mental, die aber nicht bereit sind, dafür einen zu hohen Preis zu bezahlen, werden öfter gehört als noch vor 10, 15 oder 20 Jahren. So zumindest mein Eindruck aus den Gesprächen, die ich führe. Mich würde interessieren, wie ihr das selbst wahrnehmt! Schreibt es gerne in die Kommentare. Vielleicht seid ihr mit einem rigorosen Training Darsteller:in geworden? Vielleicht fandet ihr das gut und heutige Ausbildungen zu „lasch“? I am curious.
Nun bin ich in der Frühlings“pause“, in der ich arbeiten darf. Ich sage darf, weil ich es wirklich vermisst habe, auf ein Produkt hinzuspielen, etwas zu kreieren, das dann auch verwendet wird: Bewegungen mit Motion Capture erfassen für eine 3D-Installation eines Zürcher Museums, Filmaufnahmen für ein experimentelles Theaterformat, Sprechen für Werbung und ein Tag Workshop in der Entwicklungsphase für ein Theaterstück. Fantastico!
Wenn ich Ende April zurückgehe in die UK, werden wir nach ein paar Probetagen in London als ganze Klasse nach Griechenland fliegen. Dort zeigen wir unser Projekt „Tragedy Explored“, in welchem wir uns mit der griechischen Tragödie und deren Chor beschäftigt haben – einmal im Amphitheater und einmal auf dem Dorfplatz in Messini. Aber davon erzähle ich gerne mehr in der nächsten Kolumne; ich wünsche euch einen tollen Frühlingsanfang!
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